Den Satz des Abends sagte ausgerechnet jemand aus dem Publikum, nämlich die Politikerin Sevim Dagdelen von den Linken:
„Die deutsche Bevölkerung ist nachweislich weiser als die politische und mediale Elite.“
Aber auch die geladenen Experten auf dem Podium brachten manch druckreifes Zitat. Es ging spannend zu bei dieser Diskussion dreier Politologen zum Thema „Eine neue Weltordnung: Vom Ende amerikanischer Hegemonie". Das Deutsch-Russische Forum hatte für den 5. März in die Repräsentanz der Robert Bosch GmbH in Berlin geladen.
BILD-Redakteur Julian Röpke hatte gleich nach Ankündigung der Veranstaltung im Februar auf Twitter sein Entsetzen geäußert:
Zu der Diskussion selbst war dann allerdings kein Vertreter der Boulevardzeitung anwesend, um sich ein „Bild“ zu machen.
Michael Lüders erlebte 2017 einen bemerkenswerten medialen Shitstorm, da er sich als erste prominente wissenschaftliche Stimme nicht in den Assad-Bashing-Kanon einreihte, sondern erstens die Frage nach dem Danach in Syrien stellte und zweitens auf die zerstörerische Rolle der USA im Nahen Osten hinwies. Aufgrund der Seriosität und Belegbarkeit seiner Thesen überlebte Lüders, der in Damaskus und Berlin arabische Literatur und Islamwissenschaften studiert hat, diesen Frontalangriff jedoch nahezu unbeschadet und wird auch heute noch in TV-Talkshows zum Thema „Naher Osten“ eingeladen – wenn auch vielleicht nicht mehr so häufig wie in der Vergangenheit. Seine Popularität als Sachbuchautor ist ungebremst – im Gegenteil – seine letzten Bücher wie „Wer den Wind sät“ oder „Armageddon im Orient“ waren allesamt Bestseller.
Alexander Rahr, der gerade seinen 60. Geburtstag feierte, ist der große Vermittler zwischen Russland und Deutschland – vor den Kulissen wie auch dahinter. So war er bei der von Hans Dietrich Genscher eingefädelten Begnadigung und Ausreise des russischen Oligarchen Michail Chodorkowski genauso dabei wie bei wichtigen Verhandlungen zu Nord Stream 2. Der Historiker, Politikberater und Lobbyist ist zuletzt mit dem Buch „2054. Putin decodiert“ auch unter die Romanschriftsteller gegangen.
Früher war Rahr Mitarbeiter beim Think Tank „Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP). Dort ist Dr. Josef Braml als USA-Experte tätig. Der war seltsamerweise auf dieser Veranstaltung nur als Moderator eingeteilt. Dabei hätte der Autor des Buches „Trumps Amerika — auf Kosten der Freiheit“ durchaus etwas zum Thema des Abends beitragen können. Allerdings war schon die Expertise der anderen beiden Experten rahmensprengend und führte zu einem Ritt über die Kontinente.
Gemeinsam wurden die drei Politologen von Ministerpräsident a.D. Matthias Platzeck im Namen des Deutsch-Russischen Forums, dessen Vorsitzender Platzeck ist, begrüßt. Der Ex-Politiker erinnerte in seinen einleitenden Worten an den Mauerfall, den die Ostdeutschen „fast trunken“ erlebt haben und der schon den Beginn einer neuen Weltordnung markierte.
Vor ausverkauftem Saal fanden die drei Experten schnell einen gemeinsamen Nenner. Diesen hatte Michael Lüders jüngst in der Zeitschrift „Freitag“ in einem bemerkenswerten Essay zum Thema dieses Abends gesetzt:
„Sie erkennen nicht, dass die USA eine Weltmacht im Niedergang sind, die sich einem Dialog auf Augenhöhe mit Russland und China verweigert und stattdessen auf ‚Druck‘ setzt, um verlorenen Einfluss wettzumachen, ganz unabhängig von Trump.“
Dem musste sogar Moderator Josef Braml, der sich als „bekennender Transatlantiker“ bezeichnet, zustimmen. Er räumte ein, „Europa zahlt einen Tribut an die USA als Schutzmacht“. Im Weiteren hielt sich Braml aber zurück und überließ Lüders und Rahr die Bühne.
Rahr, der quasi die russische Sicht auf die Welt aufzeigen sollte, obwohl er in Deutschland lebt und hier sozialisiert wurde, warnte: „Wenn Europa Russland nicht einbinden will, wird sich Russland enger an China binden.“
Selbst Angela Merkel hatte auf der Münchner Sicherheitskonferenz davor gewarnt, Russland „in die Arme Chinas“ zu treiben. Dies würden selbst amerikanische Strategen inzwischen „mit Entsetzen feststellen“, ergänzte Braml.
Großes Stichwort des Abends war die „Multipolarität“. Damit ist gemeint, dass inzwischen mehrere starke Machtzentren auf der Welt entstehen, während es früher mit den USA eine dominierende Weltmacht gab.
Lüders versuchte, den Beginn der „neuen Weltordnung“ zeitlich einzuordnen. Er meinte, die USA seien nach dem Mauerfall das „letzte verbliebene Imperium“ gewesen. Der Anfang vom schleichenden Ende der Dominanz der Vereinigten Staaten wurde, laut Lüders, mit dem zweiten Irak-Krieg 2003, bei dem die USA „ihre Macht überdehnten“, und mit der Banken- und Finanzkrise 2008 eingeleitet. Parallel dazu sind Russland und China stärker geworden.
Alexander Rahr skizzierte die derzeitige Lage folgendermaßen:
„Wir gehen in eine Welt der Multipolarität und das verunsichert uns. Wir glauben, dass wir die Welt ohne die USA nicht ordnen können. Russland und China sprechen sich seit Jahren für eine neue multipolare Weltordnung aus. China macht das leise, Russland macht das laut.“
Rahr, der beim Gipfel von Präsident Putin mit Trump im vergangenen Jahr in Helsinki dabei war, meinte, dass der amerikanische Präsident eigentlich auch „mit Russland und China Deals machen“ will. Allerdings wurden Trump spätestens nach dem Helsinki-Gipfel vom amerikanischen Senat „die Hände gebunden“, damit er sich nicht noch mehr an Russland annähert.
Russland hätte sich seit Jahren auf höchster Ebene dem Westen als Partner angeboten. Das war schon so, als Putin Präsident Bush nach dem 11. September eine Anti-Terror-Allianz anbot. Oder als der russische Präsident 2010 einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis nach Lissabon vorschlug. Der Westen hat Russland als „Regionalmacht“ nicht mehr ernst genommen. Rahr meinte, das größte Problem sei die überhebliche Moral des Westens als „Wertegemeinschaft“. Alle anderen seien dagegen „Barbaren“. Das lassen sich immer weniger Länder außerhalb dieser selbsternannten Gemeinschaft sagen, so Rahr.
Nahost-Experte Michael Lüders ergänzte, es gäbe auch eine riesengroße Kluft zwischen der Selbstwahrnehmung der Akteure in Politik und Medien im Westen und deren Wahrnehmung von außen her.
„Wenn man sich mit Menschen im Nahen Osten, sei es in Libyen, in Jemen, in Syrien oder im Libanon unterhält, also Länder, die Erfahrungen machen mussten mit westlich geprägter Politik, die in ihrer Heimat einen Scherbenhaufen hinterließ, und wenn man diesen Menschen dann etwas von den westlichen Werten, von Demokratie, erzählt, dann verstehen die sehr genau, dass das nur eine Kodierung ist, um die Durchsetzung eigener imperialer Interessen zu meinen. Die Menschen dort haben die Folgen dieser Politik zu tragen. Wir gehören zu den zehn Prozent, denen es am besten auf der Welt geht. Daher diese große Kluft in der Wahrnehmung.“
Anschließend kam es zu einer Fragerunde mit dem ebenfalls hochkarätig besetzen Publikum. Michael Stürmer, Geschichtsprofessor und Chefkorrespondent der „Welt“ war da, die Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen und Alexander Neu von den Linken stellten Fragen und Adelheid Bahr, die Witwe des SPD-Granden Willy Bahr, saß in der ersten Reihe. Sie hatte im vergangenen Jahr das Buch „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“ herausgegeben. Eine überraschende Wortmeldung kam von Thomas Nehls, jahrzehntelang Chefkorrespondent für WDR und ARD, unter anderem in New York. Er fragte:
„Wie kriegt man hin, dass dieses Zweierlei Maß aufhört, dass wir auf Russland eindreschen wegen der Annexion der Krim, aber die USA, die einen auf Lügen aufgebauten Krieg im Irak ausgelöst haben, oder Israel, das jeden Tag völkerrechtswidrig auf die Palästinenser eindrischt, davonkommen? Wir haben vielleicht keine ‚Lügenpresse‘, aber eine ‚Lückenpresse‘ in Deutschland. Wie kriegt man dieses Zweierlei Maß bereinigt?“
Lüders, der sich gewöhnlich durch eine bescheidene, sachliche Art auszeichnet, wurde bei seiner Antwort etwas salopper und emotionaler:
„Es gibt beim Thema Russland eine gewisse Bereitschaft zu einer ‚Denunziation‘. Dann ist man schnell ein ‚Putinversteher‘. Wenn man dagegen die politisch korrekte Meinung vertritt, wie sie in Washington oder bei der Nato in Brüssel formuliert wird, dann ist man in den Denkfabriken und Leitmedien ein gern gesehener Gast, ohne jemals vorgeworfen zu bekommen, man sei ein ‚Amerika-Versteher‘ und wenn, dann wäre dies positiv besetzt. Vielleicht müssen wir, die Öffentlichkeit, lernen, mit größerem Nachdruck von den Medien und den Politikern zu verlangen, ihr eigenes Denken zu hinterfragen. Es kann doch nicht sein, dass es völlig egal ist, ob man die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche oder den Spiegel lese und sich in Sachen Russland alle darin einig sind, dass das Böse hier einen Namen und eine Heimat hat. Und Selbstkritik in Bezug auf westliche Politik ist so gut wie nie gegeben.“
sputniknews
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