Die Dinge entwickelten sich soweit, dass junge Kurden zunehmend lautstark die Unabhängigkeit der Kurdenregion hin zum ersten dauerhaften Kurdenstaat in der Geschichte forderten. Erbil müsse seine eigenen Wege gehen, so die Devise.
Der Jubel über die fetten Jahre während der 2000er bis heute allerdings ist irreführend: Die nordirakische Kurdenregion wurde auf einem wackeligen Fundament gegründet. Die schwache Finanzstruktur Erbils bleibt bis heute ein Albtraum für die Barzani-Administration.
Die Kurdenregion, welche die Provinzen Dohuk, Erbil und Suleymaniye umfasst und mittlerweile faktisch bis zur Turkmenen-Hochburg Kirkuk und einige Gebiete der Provinz Mosul reicht, weist keine robuste Wirtschaftsstrukturen aus. In der Region gibt es keine nennenswerte Industriezweige, die den zahlreichen Arbeitslosen in der KRG eine Perspektive geben könnten. Auch die Landwirtschaft der Region ist nur wenig ausgebildet. Sie produziert eine begrenzte Menge Nahrung für die fünf Millionen Einwohner der Kurdenregion. Zahlreiche Produkte werden aus der Türkei importiert.
Die nahezu einzige Möglichkeit, in der KRG regelmäßige Bezüge zu erhalten, ist ein Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst zu ergattern. Doch bereits jetzt sind nahezu 75 Prozent der arbeitenden Bevölkerung der KRG in diesem Sektor tätig. Erbil verausgabt jährlich 86 Prozent seines Haushaltsbudgets für Personalkosten und 22 Prozent für Leistungsbilanzausgaben. Zehn Prozent bleiben übrig, die für diverse Investitionsprogramme vorgesehen sind. Die Wiederherstellung der landesweiten Infrastruktur nach den Zerstörungen, die aus den Kämpfen mit dem IS resultieren, aber frisst das knappe Budget auf.
Die Zufriedenstellung der öffentlichen Bediensteten, einschließlich der 90 000 Peshmerga-Kämpfer an der Front, ist eine absolute Priorität für die Barzani-Administration. Aber das ist schwieriger als auf dem Papier vorgesehen.
Die einzige Einkommensquelle der KRG sind Gewinne aus dem Erdölgeschäft, an denen die irakische Zentralregierung in Bagdad auch Erbil beteiligen müsste. Einem Abkommen zufolge ist Bagdad verpflichtet, 17 Prozent aller Öleinnahmen an die kurdische Regierung in Erbil abzuzweigen. Die Realität ist, dass Bagdad nur 12 bis 13 Prozent seiner Einnahmen nach Erbil überweist. Die proiranisch geprägte Regierung in Bagdad argumentiert, sie gebe bereits Geld für Verteidigungs-, Gesundheits- und Bildungsaufgaben in der nördlichen Kurdenregion aus. Außerdem missbrauchte Bagdad diese Finanzmittel immer wieder als Druckmittel gegen die Kurden. Der finanzielle Ausgleich an die Barzani-Regierung wurde zudem sehr unregelmäßig ausgezahlt.
Eine politische Zuspitzung der Lage nährte den Entschluss, kurdisches Öl auf eigene Faust zu exportieren und Gewinne einzubehalten.
Es klingt auf den ersten Blick, als hätte Erbil die Lösung für seine Probleme gefunden. Doch nach einem Blick auf die Details wird schnell offensichtlich, dass die internationale Gemeinschaft, angeführt durch die USA, eine unabhängig handelnde Kurdische Autonomieregion im Grunde nicht befürwortet, um die Zentralregierung in Bagdad nicht übermäßig zu verärgern – zumindest gegenwärtig nicht. Zudem findet sich Erbil in Zeiten wieder, wo der internationale Ölpreis immer günstiger wird und Öl fast billiger als Wasser ist. Abschließend wird der Druck vonseiten internationaler Unternehmen größer, da diese auf eine Rendite für ihre millionenschweren Investitionen hoffen. Erbil kann sich bei anhaltendem Kurs von Ölpreis und Co nicht lange eines drohenden Bankrotts erwehren.
Die Kurdische Autonomieregion befindet sich in einem Dilemma. Einerseits ist sie verpflichtet, wirtschaftliche Stabilität herzustellen und Gehälter zu zahlen, andererseits bleibt die Gefahr durch den IS weiterhin bestehen. Deutschen Medienberichten zufolge begannen Peshmerga, die seit Monaten keinen Sold mehr gesehen hatten, gar damit, ihre lukrativen „Waffengeschenke“ aus Deutschland und dem Westen zu verkaufen, um ihre Familien wieder versorgen zu können. Diese Waffen gelangen jedoch über den Schwarzmarkt früher oder später in die Hände des IS oder der verbotenen PKK, welche beide versuchen, ihren militärischen Bedarf unter allen Umständen zu bedienen.
Hinzu kommt, dass das Regime von Barzani innenpolitisch durch die oppositionelle Goran-Bewegung unter Zugzwang gerät. Diese Bewegung setzt gekonnt auf die wachsende Unzufriedenheit in der kurdischen Bevölkerung und münzt diese in politische Verhandlungsmasse gegen Barzani um.
Die Alarmglocken läuten. Auch Ankara, welches die Barzani-Regierung über Jahre nun gestärkt und wirtschaftlich aufgebaut hat, muss ein wachsames Auge auf die Ereignisse in Erbil haben. Wenn es sein muss, wird die Türkei die Kurdenregion, welche wie Ankara die PKK als Gefahr für die eigene Stabilität betrachtet, mithilfe eigener Mittel vor dem ökonomischen und politischen Niedergang retten. Während für Bagdad und Teheran Chaos in Erbil ein willkommenes Resultat politischer Distanz der Kurdenregierung wäre, sollte Ankara darauf bedacht sein, nach dem Zusammenbruch der Staaten Syrien und Irak neue lokale Freundschaften und Allianzen zu pflegen, die nicht nur wirtschaftliche Möglichkeiten offerieren, sondern auch politische. Nicht zuletzt dürfte Erbil die Türkei vor dem wachsenden Einfluss des schiitischen Irans abschirmen und energiepolitische Probleme zumindest in Teilen zugunsten Ankaras lösen.
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