Wer Joe Bidens Fernsehauftritt am Abend erlebt hat, der konnte glauben, die Wahl im November sei bereits gelaufen. Biden beschrieb die Herausforderung durch das Coronavirus, er mahnte die Leute, sich verantwortlich zu verhalten, er lobte Ärzte und Krankenschwestern für ihre Arbeit. Er sprach, als sei er bereits Präsident der Vereinigten Staaten.
Dabei ist er offiziell noch nicht einmal Kandidat der Demokraten für die Präsidentschaftswahl. Allerdings ist das seit gestern nur noch Formsache. Dem ehemaligen Vizepräsidenten ist die Nominierung nicht mehr zu nehmen. Er hat in Florida und Illinois, zwei der bevölkerungsreichsten Staaten, entscheidende Siege errungen. Er hat auch in Arizona gewonnen. Er hat weit über 200 Delegierte Vorsprung auf Bernie Sanders, das hat noch kein Kandidat aufgeholt.
Wenn nicht noch etwas Unvorhergesehenes passiert, wird Biden im November gegen Donald Trump antreten. Die eigentliche Aufgabe liegt aber noch vor ihm.
Biden muss sich bewegen
Für Biden wird es darauf ankommen, die demokratische Partei hinter sich zu versammeln. Sanders hat den Abend verloren und wohl auch das Rennen um die Nominierung. Aber der Senator aus Vermont schart nach wie vor eine junge und leidenschaftliche Anhängerschaft um sich, die sich einen radikalen Umbruch wünscht. Will Biden die Bernie-Gemeinde für sich gewinnen, muss er Zugeständnisse machen - etwa, in dem er sich für eine weitgehende Abschaffung von Studiengebühren ausspricht.
Seine Ansprache zeigt, dass er sich dessen bewusst ist. "Ich weiß, was Euch umtreibt", beteuerte Biden in seiner Videobotschaft. Er behauptete, Sanders und er lägen nur in "taktischen" Fragen auseinander. Sie eine aber eine "gemeinsame Vision" für die Reform Amerikas. Das ist für alle, die die heftigen Debatten zwischen den beiden verfolgt haben, eine überraschende Aussage.
Nur mit Worten wird Biden die Sanders-Anhänger nicht überzeugen können. Er muss ihnen auch inhaltlich etwas anbieten, zum Beispiel in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Bislang hat er noch nicht erkennen lassen, wie weit er dabei gehen will. Das sollte er sich rasch überlegen.
Auf Sanders kommt es an
Niemand kann Bernie Sanders zwingen, aus dem Kandidatenrennen auszusteigen. Er kann theoretisch bis zum 23. Juni um die Nominierung kämpfen, wenn Kentucky als letzter Staat wählt. Er kann aber auch das Richtige tun und seiner Partei eine Situation wie 2016 ersparen.
Damals lieferten sich Sanders und Hillary Clinton einen erbitterten Kampf. Als Clinton schließlich nominiert wurde, unterstützte Sanders sie nur halbherzig. Viele seiner Anhänger wählten sie nicht und halfen so, Donald Trump ins Amt zu befördern. Das sollte sich nicht wiederholen.
Sanders hat viel erreicht. Er hat die Demokraten nach links gerückt. Seine Forderung, alle Amerikaner müssten krankenversichert sein, ist mittlerweile die Position der gesamten Partei - auch wenn eine Mehrheit den kompletten Umbau des Gesundheitswesen, den Sanders will, ablehnt. Er hat dabei geholfen, den Klimawandel ins Zentrum der politischen Debatte zu stellen. Er sollte darum kämpfen, dass Teile seiner Politik auch umgesetzt werden.
Nun muss Sanders seine Anhänger davon überzeugen, Biden zu unterstützen. Wenn er weiter Wahlkampf gegen Biden macht, wird das nicht gelingen. Auch so ist die Aufgabe schwer genug.
Trump bekommt seinen Angstgegner
Der Präsident muss nun wohl gegen seinen Angstgegner antreten. Trump hat sich in der Vergangenheit zwar immer wieder mokiert über den ehemaligen Vizepräsidenten: Er nannte ihn "Sleepy Joe", den schläfrigen Joe. Aber allein die Tatsache, dass er die ukrainische Regierung unter Druck gesetzt hat, um Schmutz gegen Biden zu liefern, offenbart, wie ernst er ihn nimmt.
Bidens Stärke ist nicht nur, dass er als ehemaliger Vize Barack Obamas schwarze Wähler anspricht wie kein anderer Politiker der Demokraten. Er ist darüber hinaus auch beliebt bei jenen weißen Arbeitern im Mittleren Westen, die Trump im Jahr 2016 den Sieg brachten.
Genau um diese Wählergruppe muss der Präsident nun zittern: Am Dienstagabend gewann Biden in Illinois mit einem Vorsprung von über 20 Prozentpunkten.
Trump wird nun versuchen, dem 77-jährigen Biden die mentale Fähigkeit abzusprechen, das Land zu führen. Es gibt unzählige Videoschnipsel, die einen fahrigen Biden zeigen, der seine Sätze nicht zu Ende bringt und scheinbar zusammenhanglos daherredet. Trumps Kampagne wird das Netz in den kommenden Wochen damit fluten. Tatsächlich haben die holprigen Auftritte Bidens selbst viele Demokraten daran zweifeln lassen, ob er der richtige Herausforderer ist.
In der Partei beruhigen sich viele mit der großen Erfahrung Bidens. Er saß über Jahrzehnte im US-Senat und managte im Weißen Haus unzählige Krisen. Trump dagegen verliert gerade das Vertrauen der Nation. 60 Prozent der US-Bürger sagen, dass sie nicht mehr glauben, was der Präsident über die Coronakrise sagt.
Es wird ein Wahlkampf wie kein anderer
Bidens Auftritt am Dienstagabend gab einen Vorgeschmack darauf, wie Corona den Wahlkampf verändern wird. Es war wohl das erste Mal, dass sich ein aussichtsreicher Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur von zu Hause an die Wähler wandte. Immerhin hatte sein Team es geschafft, amerikanische Flaggen im Hintergrund zu platzieren.
Es wird auf absehbare Zeit keinen konventionellen Wahlkampf mehr geben, keine Kundgebungen, keine Townhall-Meetings, kein Babyküssen und Händeschütteln. Die neue Situation muss für die Demokraten kein Nachteil sein muss. Trump ist in seinem Element, wenn er vor großen Mengen sprechen kann. Er zieht daraus seine Energie. Der kleine Auftritt ist nicht seine Sache.
Biden dagegen war lange nicht mehr so gut wie am Dienstagabend. Von seiner Neigung zum Abschweifen, der er bei Auftritten vor Publikum oft erliegt, war nichts zu sehen. Er redete klar, ernsthaft und glaubwürdig. Ihm kommen die Beschränkungen des Wahlkampfs zugute.
spiegel
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