Die Wahl von Tim Walz als US-Vizepräsidentschaftskandidat beweise den politischen Verstand von Kamala Harris, schreibt die polnische Tageszeitung "Rzeczpospolita". "Der ehemalige Gouverneur von Minnesota ist nämlich alles andere als das Modell eines amerikanischen Liberalen. Dies weicht das ultralinke Image der demokratischen Präsidentschaftskandidatin auf. Hätte Harris als "Running Mate" einen Politiker gewählt, der nach amerikanischen Maßstäben ähnlich liberale Ansichten hat wie sie, dann wäre sie vermutlich auf dem derzeitigen, sehr eingeschränkten Niveau der Zustimmung hängengeblieben. Die Wahl von Walz ist daher eine Verneigung in Richtung der gemäßigt liberalen und gemäßigt konservativen Wähler in den Staaten des Mittleren Westens, die traditionell für die Kandidaten der Republikaner stimmen. Das ist ein kluger Schachzug, auch wenn die Wähler aus dem sogenannten "Rust Belt" es Walz nie verzeihen werden, dass er sich 2008 Subventionen für die Schwerindustrie widersetzt hat, auf die sich diese Region stützt."
Auch die niederländische Zeitung "De Volkskrant" wertet Harris' Entscheidung als einen wahrscheinlich klugen Schachzug. "Obwohl der nördliche Bundesstaat Minnesota normalerweise zuverlässig für demokratische Präsidentschaftskandidaten stimmt, haben die Wähler dort viel mit denen in den wichtigen Swing States Wisconsin, Michigan und Pennsylvania gemeinsam. Dort sind die weißen Arbeiterfamilien zu Hause, die 2016 massenhaft von den Demokraten zu Trump gewechselt sind und dies nun erneut tun könnten. Sie sind der Schlüssel zum Weißen Haus.
Mit ihrer Entscheidung für Walz versucht Harris, diese Zielgruppe für sich zu gewinnen. Das scheint ein kluger Schachzug zu sein. Als Politiker ist Walz wie kaum ein anderer in der Lage, die Kluft zwischen gemäßigten Wählern und den progressiven Werten der Demokratischen Partei zu überbrücken. (...) Was die Demokraten an Walz besonders bewundern: wie gut es ihm gelingt, seine Politik sowohl nach links als auch nach rechts zu vermitteln - und zwar mit genau der Alltagssprache, die ihm im Wahlkampf so zugutekommt. Gleichzeitig stellt Walz' zweideutiges Profil, das sowohl gemäßigt als auch progressiv ist, eine Herausforderung für die Republikaner dar. Sie gingen dann auch sofort in die Offensive, indem sie ihn als Linksaußen-Politiker abstempelten."
Anders sieht es das "Wall Street Journal": "Donald Trump hat den Demokraten einen Gefallen getan, indem er einen Vizekandidaten gewählt hat, der seine Basis stärkt, anstatt sich an Wechselwähler zu wenden. Kamala Harris hat nun den Gefallen erwidert, indem sie (...) Tim Walz, den Favoriten der Progressiven, als ihren Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten ausgewählt hat. Die Entscheidung, die den Republikanern Angst eingejagt hätte, wäre der populäre Gouverneur Josh Shapiro aus Pennsylvania gewesen, einem Swing State, der für den Sieg (bei der Präsidentschaftswahl) entscheidend ist. Doch Shapiro, der jüdisch ist, war das Ziel einer außergewöhnlichen und widerlichen Kampagne des linken Flügels der Demokraten. (...) Walz, 60 Jahre alt, hat eine bodenständige Persönlichkeit, kommt aus dem Mittleren Westen und ist damit ansprechend. (...)
Doch jetzt beginnt die wahre Prüfung. Insbesondere wird Walz' Reaktion auf die Unruhen von 2020, nach der Ermordung von George Floyd, unter die Lupe genommen werden, als arme Gegenden in Minneapolis brannten und viele Geschäftsinhaber alles verloren. Zögerte er, Truppen zu entsenden? (...) (Harris') Wahl eines Vizekandidaten ist ihre erste Entscheidung auf Präsidentenebene und bestätigt die Positionen, die sie äußerte, als sie 2019 als Demokratin aus dem linken Flügel der Partei für das Weiße Haus kandidierte. (...) Wähler, die Trump nicht mögen, könnten entscheiden, dass er immer noch besser ist, als sich darauf einzulassen."
Laut der "Washington Post" zeigt Harris mit ihrer Entscheidung, dass sie parteiinternem Druck nicht standhält. "Die Wahl bedeutet, dass es für Harris eine schwere Bürde sein wird, die Mitte des Landes zu überzeugen, dass ihre Kampagne eine breite Anziehungskraft hat, sowohl vom Stil als auch vom Inhalt. Walz ist ein ehemaliger Lehrer, der im Fernsehen wie ein Durchschnittsbürger aus dem (...) Mittleren Westen der USA wirkt. Er ist auch der liberalste der sechs Kandidaten, die Harris als Vizepräsidenten in Betracht gezogen hat.
Harris' Entscheidung, Walz auf die Vizeposition der Demokraten zu setzen, könnte ein Versuch sein, das gehobene Küsten-Image ihrer Partei zu erweitern - oder ein Versuch, den linken Flügel ihrer Partei zu besänftigen. Höchstwahrscheinlich war es beides. (...) Klar ist, dass Harris' Entscheidung für Walz nicht bewiesen hat, dass sie dem parteiinternen Druck von links im Weißen Haus widerstehen würde. Mit einer anderen Vizeentscheidung hätte sie diese Botschaft senden können. Taktisch gesehen gibt die Wahl ihren Gegnern ein klar definiertes Ziel: ein Duo, das zu einem abgehobenen Liberalismus neigt."
Der Londoner "The Guardian" sieht hingegen echte Begeisterung für Tim Walz als Vizekandidaten. "Während einige meinen, andere Kandidaten - insbesondere Josh Shapiro, der Gouverneur von Pennsylvania und Berichten zufolge der andere Finalist für die Rolle - hätten helfen können, den Wahlkampf in einem Swing State zu gewinnen, halten Politikwissenschaftler dies für einen Mythos. (...) Die Auswahl von Vizepräsidenten-Kandidaten kann aber dazu beitragen, eine Partei zu begeistern und ihr das Gefühl eines gemeinsamen Ziels zu vermitteln. Tim Walz ist der progressivste unter den demokratischen Politikern, die für diese Rolle ernsthaft in Betracht gezogen wurden. Während es bei Aktivisten Vorbehalte gegen andere Kandidaten gab, scheint es echte Begeisterung für das zu geben, wofür Walz einsteht, und zugleich für seine Fähigkeit, dies geradlinig zu vermitteln. Kamala Harris' Entscheidung für ihn trägt zu einer erneuerten Entschlossenheit bei und ist ein weiterer willkommener Schritt in einem Wahlkampf, der noch lange nicht zu Ende ist."
Laut der britischen Zeitung "The Telegraph" steckt hinter Harris' Entscheidung die Hoffnung, dass Walz auch die Arbeiterklasse anspricht. "Minnesota ist ein Bundesstaat, den die Demokraten halten müssen, wenn sie eine Chance haben wollen, das Weiße Haus zu verteidigen. Der gesamte Mittlere Westen ist ein wichtiges Wahlkampfgebiet, in dem das Trump-Lager besonders erfolgreich ist. Kamala Harris wird hoffen, dass Tim Walz Stimmen von Teilen der weißen Arbeiterklasse gewinnen kann. Er hat in der Nationalgarde gedient und war in Arbeiterberufen tätig. Der Gouverneur ist zudem ein begeisterter Waffenbesitzer und hat zuvor einen traditionell eher republikanischen Bezirk im Kongress vertreten.
Aber es gibt auch Aspekte in seinem Lebenslauf, die bei konservativen und gemäßigten Wählern weniger gut ankommen werden. Als George Floyd im Jahr 2020 in Minneapolis (von Polizisten) getötet wurde, war Walz bereits Gouverneur. Während in der Folge die größte Stadt seines Bundesstaates in Unruhen und Plünderungen versank, die Schäden in Höhe von zig Millionen US-Dollar anrichteten, brauchte Walz drei Tage, um die Nationalgarde zu mobilisieren."
Quelle: ntv.de, lar/dpa
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