Warum bricht ein Krieg aus, den niemand will?

  29 Juni 2016    Gelesen: 763
Warum bricht ein Krieg aus, den niemand will?
Vor 25 Jahren spielten die wichtigsten Musiker Jugoslawiens in Sarajevo. Alle waren so sicher: Zum Krieg kann, darf, wird es nicht kommen. Und dann brach die Hölle los. Ein neues Projekt sucht Zeitzeugen.
Sie lieben Musik, sie suchen den Frieden, sie sind voller Hoffnung und haben sich in der Zetra in Sarajevo versammelt. Am 28. Juli 1991 steht Davor Ebner auf der Bühne der riesigen Veranstaltungshalle in der bosnischen Hauptstadt. Bosnien und Herzegowina ist zu dieser Zeit eine von sechs Teilrepubliken des Vielvölkerstaats Jugoslawien - und Davor ist Sänger der Band Regina, die im ganzen Land die Hallen füllt. Doch die Atmosphäre an diesem Abend ist selbst für so einen erfolgreichen Musiker etwas Besonderes. "Die Energie war abnormal", erinnert er sich heute.


Das politische Klima in Jugoslawien ist zu dieser Zeit schon vergiftet, in Kroatien gibt es erste Kämpfe. Doch das Zetra-Konzert gibt den Menschen Mut. 30.000 tanzen in der Halle, 50.000 davor. Hunderttausende sind aus dem ganzen Land nach Sarajevo gekommen. Das Konzert wird im Fernsehen übertragen. Musiker, Redner, Besucher - alle sind überzeugt: Dieser Abend bringt den Frieden zurück.

Niemand, der dabei ist, kann sich vorstellen, was nur Monate später geschehen wird: Serben, Kroaten und Bosniaken kämpfen gegeneinander. Es beginnt ein Krieg, der in den nächsten vier Jahren mehr als Hunderttausend Menschen das Leben kosten wird. Aus der Zetra wird schon bald eine Leichenhalle.

"An diesem Tag kamen Menschen zusammen, um den Frieden zu feiern. Das waren keine passiven Zuhörer, die zu einem Konzert kommen, um Musik zu hören. Sie waren ein wesentlicher Teil davon", sagt Milan Trivic. Er arbeitete damals für Yutel, den letzten unabhängigen Fernsehsender Jugoslawiens. Gemeinsam mit ein paar Rockbands hatte er die Idee für das Konzert.

Der Abend des 28. Juli war der Höhepunkt der Friedensbewegung in Jugoslawien - einer Bewegung, an die sich heute kaum jemand erinnert. Nur Monate später wurden in Sarajevo Barrikaden errichtet. Ein junger Soldat mit Kalaschnikow fragte Milan Trivic: "Welche Nationalität haben Sie?" Er verlor sein Zuhause, wurde zum Gefangenen in seiner eigenen Stadt, dem belagerten Sarajevo.

Praktisch über Nacht schießen Nachbarn auf Nachbarn

Die Belagerung von Sarajevo war eine der tragischsten Ereignisse des Balkankriegs. Praktisch über Nacht begannen Nachbarn auf Nachbarn zu schießen, aus Freunden wurde Feinde, Familien wurden auseinandergerissen. Nachrichten von Verbrechen häuften sich - von Massenvertreibungen, von Massakern, von Konzentrationslagern.

Der vormalige Staat Jugoslawien brach auseinander, die Menschen dort erlebten furchtbare Tragödien. Für ganz Europa bedeutete dieser Krieg eine Katastrophe - inmitten einer Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung. Zuvor hatten sich im Ost-West-Konflikt zwei waffenstarrende politische Systeme gegenüber gestanden. Dann fiel die Berliner Mauer, der Warschauer Pakt löste sich auf, der letzte große europäische Konflikt schien beendet.

Gerade als die meisten auf dem Kontinent glaubten, sich nach zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg auf dem Weg in eine Zukunft mit Frieden und Freiheit zu befinden, erlebte Europa auf dem Balkan einen Rückfall in die Barbarei.

Wie konnte es dazu kommen, obwohl so viele gegen den Krieg protestierten? Das Konzert in der Zetra-Halle war keine isolierte Anekdote. In den Jahren 1991 und 1992 fanden in ganz Jugoslawien Kundgebungen und Konzerte für den Frieden statt. Die Soziologin Janja Bec schätzt, dass 40.000 Soldaten aus der Jugoslawischen Volksarmee desertierten. Mehr als 100.000 Rekruten seien ihrer Einziehung gar nicht erst gefolgt. Ausgerechnet in Serbiens Hauptstadt Belgrad sei der Anteil der Wehrdienstverweigerer mit 85 Prozent besonders hoch gewesen.

"Kriege sind nicht vorüber, wenn die Waffen schweigen"

25 Jahre nach dem Konzert in der Zetra-Halle sucht das Crowdsourcing-Projekt "Zetra - Days of Hope" nach den Konzertbesuchern von damals, um ihre persönliche Geschichte vom 28. Juli 1991 zu erzählen. Das Projekt soll dokumentieren, wie es ihnen seither ergangen ist - und dabei auch nach einer Antwort auf die Frage suchen: Warum bricht ein Krieg aus, den niemand will?

"An die Schlachten, Gräuel und Massaker wie in Srebrenica wird regelmäßig erinnert - zu Recht", sagt der Journalist Danijel Visevic, Initiator des Zetra-Projekts. "Über die gewaltige Friedensbewegung in Jugoslawien wird jedoch gar nicht berichtet. Das wollen wir ändern."

Visevic selbst ist in Deutschland aufgewachsen, aber ein Großteil seiner Familie lebt in Bosnien und Kroatien. Sechs seiner Cousins und vier seiner Onkel waren als Soldaten an der Front. Heute sind sie und ihre Familien zum Teil schwer traumatisiert. "Kriege sind nicht vorüber, wenn die Waffen schweigen", weiß Visevic. "Kriege verstrahlen Menschen und ihre Kinder über Jahrzehnte hinweg."

Gesucht: Persönliche Geschichten vom Balkan

Gemeinsam mit SPIEGEL ONLINE, dem auf transmediales Storytelling spezialisierten Team von Chapter One und lokalen Medienpartnern auf dem Balkan ruft "Zetra - Days of Hope" Besucher von damals auf, ihre Geschichte zu erzählen - bis zum 28. Juli 2016, dem 25. Jahrestag des Konzerts, auf der Homepage des Zetra-Projekts. Das kann schriftlich geschehen oder in Form eines Handy-Videos; auch Erinnerungsfotos kann man hochladen.

Die Journalisten werden die Episoden aufbereiten und auf der Webseite veröffentlichen. So soll ein Kaleidoskop aus Texten, Fotos und Videos entstehen, und zugleich ein virtueller Ort, an dem sich die Teilnehmer nach einem Vierteljahrhundert wieder begegnen. SPIEGEL ONLINE wird bis zum 28. Juli jede Woche die Geschichte eines Konzertbesuchers erzählen. Was Initiator Milan Trivic erlebte, berichtet er hier.

Die vielen persönlichen Storys sollen auch ein differenzierteres Bild vom Vorkriegsjugoslawien zeichnen, als es heute in vielen Köpfen besteht. Jugoslawien war vor 25 Jahren ein multireligiöses, multikulturelles und multiethnisches Land mit einem hohen Bildungsstandard und einer robusten Zivilgesellschaft. In seinem Buch "Origins of a Catastrophe" schreibt Warren Zimmermann, ehemaliger US-Botschafter in Jugoslawien: Das Land, dessen Bevölkerung Frieden gewollt habe, sei von nationalistischen Politikern "von oben nach unten" zerstört worden.

Davor Ebner, inzwischen 44 Jahre alt, lebt noch immer in Sarajevo. Er blieb auch nach dem Krieg Musiker, vertrat Bosnien-Herzegowina 2009 beim Eurovision Song Contest. Auf die Frage, was man damals hätte anders machen können, um den Krieg zu verhindern, sagt er heute, die Friedensbewegung sei machtlos gewesen. "Aber wir haben es zumindest versucht. Ich finde, das ist viel wert."

Quelle : spiegel.de

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