Putin schaut höhnisch auf den Westen

  23 Oktober 2015    Gelesen: 685
Putin schaut höhnisch auf den Westen
Der Westen lässt sich in Syrien von Moskau und Teheran vorführen. Fast noch schlimmer als seine ratlose Abwartehaltung ist aber, dass sie als Ausdruck abgeklärter "Realpolitik" verkauft wird.
Von Wladimir Putins dreister Lüge, seine Luftwaffe sei in Syrien gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Einsatz, bleibt nichts übrig. Tatsächlich bombardierten russische Flugzeuge in den vergangenen Tagen massiv die Vororte von Aleppo, die von der prowestlich orientierten und vom IS aufs Äußerste bekämpften Freien Syrischen Armee (FSA) gehalten werden. Auf die Zivilbevölkerung nehmen Putins Bomber dabei keinerlei Rücksicht.

Auf zwischen 35.000 und 70.000 wird die Zahl der Flüchtlinge geschätzt, die sich in Todesangst vor ihnen in Sicherheit zu bringen versuchten.

Wladimir Putin im Interview
Putin zu Syrien
"Wir stabilisieren die rechtmäßige Regierung"
Einen Aufschrei, gar Demonstrationen gegen das russische Vorgehen gibt es in der westlichen Öffentlichkeit nicht. Als kürzlich bei der Rückeroberung der von den Taliban besetzten afghanischen Stadt Kundus durch Regierungstruppen die zu deren Unterstützung eingesetzte US-Luftwaffe ein Krankenhaus traf, schlug die internationale Empörung über dieses "Kriegsverbrechen" hohe Wellen. Womöglich zu Recht, denn ob es sich nur um ein "Versehen" handelte, ist unklar.

Die von den Taliban zuvor in Kundus verübten Verbrechen – Morde, Plünderungen und Vergewaltigungen im großen Stil – fanden freilich weit weniger Beachtung. Und noch weniger rührt die internationale Gemeinschaft der Moralisten und Pazifisten jetzt, dass die russische Luftwaffe bei ihren Angriffen auf Aleppo zwei Krankenhäuser bombardiert haben soll.

Putins Interventionstruppe zur Rettung der Herrschaft des Massenmörders Assad erleichtert nicht nur dem IS das Geschäft, indem er dessen Gegner unter den Rebellen dezimiert. Sie bombt auch den in ihrem Windschatten vorrückenden iranischen Bodentruppen und proiranischen Milizen den Weg frei, deren brutales Vorgehen gegen die sunnitische Zivilbevölkerung schon aus dem Irak bekannt ist. Dabei werden neue Flüchtlingsströme produziert, die in nicht allzu ferner Zukunft Europa erreichen werden.

Ob dies von Putin kalkuliert ist, um die Europäische Union zu destabilisieren, oder ob er es nur als ihm genehmen Nebeneffekt wohlwollend zur Kenntnis nimmt, spielt dabei im Grunde keine Rolle.

Der Westen wartet auf Kooperation

Doch ungeachtet dieser alarmierenden Tatsachen klammern sich westliche Strategen und vermeintliche Experten in Politik und medialer Öffentlichkeit unverdrossen an die Erwartung, die Aggressoren in Moskau und Teheran baldmöglichst als kooperative Gesprächspartner zur Beilegung der kriegerischen Auseinandersetzung in Syrien gewinnen zu können – und zu müssen, hat der ratlose Westen selbst doch keinerlei Befriedungskonzept anzubieten. Die deutsche Außenpolitik scheint sich auf die "Strategie" verlegt zu haben, erst einmal herauszufinden, was der Kriegsherr im Kreml, seine iranischen Verbündeten und andere Akteure an Konzessionen zu offerieren bereit sind, um sich dann zu überlegen, was man selbst will – oder sich zu wollen erlauben darf.

Herausgekommen ist dabei bisher jedoch nur das blamable Abblitzen des Außenministers bei seiner Reise nach Iran und Saudi-Arabien, auf der er die verfeindeten Mächte von den Vorzügen des Dialogs zu überzeugen versuchte.

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Indessen hat Putin seine Marionette Assad demonstrativ zur Danksagung im Kreml antreten lassen, um zu signalisieren, wie fest er ihn in der Hand hat. Womöglich ist er irgendwann sogar geneigt, seinen Schützling auszuwechseln, um dem Westen ein besseres Gefühl dabei zu geben, dem Fortbestand des Baath-Regimes und damit der russisch-iranischen Vorherrschaft über Syrien zuzustimmen.

Noch bestürzender als die devote Abwartehaltung westlicher Politik selbst ist freilich, mit welcher Verve sie von einer wachsenden Zahl von Kommentatoren zum Ausdruck nüchterner, abgeklärter "Realpolitik" nobilitiert wird. Man staunt zuweilen, wer sich – bis hin zu eher für feuilletonistische Kompetenz bekannten Autoren – in deutschen Medien alles dazu berufen fühlt, einer bisher vermeintlich weltfremd-idealistischen Außenpolitik des Westens die Totenmesse zu lesen und deren Verfechter darüber aufzuklären, wie die raue Welt der internationalen Politik tatsächlich beschaffen sei.

Putins Ziele sind nicht die des Westens

Meist kranken solche Belehrungen jedoch daran, dass sie als Ausgangspunkt auf einem alle Evidenz ignorierenden Glauben beharren: Dass das Ziel von Putins – internationale Regeln höhnisch missachtender – Militärintervention tatsächlich eine gemeinsame Front aller Gutwilligen gegen den Menschheitsfeind IS sei. Und als praktischer Vorschlag kommt bei solchen strategiehistorischen Höhenflügen meist nichts anderes heraus als der, man müsse alle Konfliktbeteiligten "an einen Tisch bringen" – so, als basiere das Gemetzel in Syrien nicht auf realen, teils unversöhnlichen Feindschaften, sondern auf bedauerlichen Missverständnissen, die sich im vernünftigen Diskurs auflösen lassen.

"Realpolitik", wie sie – etwa von der außenpolitischen Schule des früheren US-Außenministers Henry Kissinger – in Wirklichkeit betrieben wurde, sieht jedoch ganz anders aus. Ihre Prämisse ist, dass man erfolgreiche Verhandlungen mit eingeschworenen Gegnern nur von einer starken eigenen Machtposition aus führen kann. "Realpolitik" bedeutet, sich diese Machtpositionen auch unter Ausschluss allzu penibler moralischer Kriterien zu sichern.

Sie hieß für die USA etwa, hinter den Kulissen den Putsch in Chile 1973 zu steuern oder in den 1980er-Jahren den Despoten Saddam Hussein aufzurüsten, damit er den strategischen Feind Iran in einen jahrelangen, entsetzlichen Krieg verwickeln konnte.

Wer sich "Realpolitik" dieser Art wünscht, soll es offen sagen – und im Falle Syriens sein Plazet dazu geben, dass sich der Westen dort zur Durchsetzung seiner Interessen Verbündete ausschließlich nach ihrer diesbezüglichen Nützlichkeit aussucht. Nicht ernst zu nehmen ist jedoch eine "realpolitische" Haltung, die nur den Feinden des Westens das Recht auf ruchlose Macht- und Interessenpolitik zugesteht, die eigene "realistische" Perspektive jedoch darauf beschränkt, auf deren guten Willen und verständige Einsichtsfähigkeit zu vertrauen.

Politik in der wirklichen Welt, ob sie sich nun eher als "realistisch" oder "wertegeleitet" versteht, muss sich zuallererst ein ungetrübtes Bild von dem machen, was ist. Und darf sich nicht scheuen, Feinde als solche zu erkennen. Entgegen einem hierzulande weit verbreiteten Irrtum bedeutet dies nämlich nicht das Ende, sondern den Anfang erfolgversprechender Diplomatie.

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