Maximal unbeeindruckt

  21 Dezember 2016    Gelesen: 678
Maximal unbeeindruckt
Wie geht Berlin mit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt um? Ein Streifzug durch die Hauptstadt zeigt Erstaunliches. Die Saat des Terrorismus scheint hier nicht aufzugehen.
Still steht das Riesenrad am Alexanderplatz, die Glühwein-Buden sind verrammelt. Und die Kugel des Fernsehturms steckt im Nebel. Am Tag nach dem Lkw-Anschlag im Westen der Stadt haben fast alle 60 Weihnachtsmärkte Berlins geschlossen, so auch hier am Alex. "Aus Mitgefühl und Pietät", sagt Rudi Bergmann. Rasch schiebt er hinterher: "Aber nicht aus Angst!"

Bergmann kommt seit 20 Jahren mit seiner "Grillhütte" aus Nürnberg nach Berlin, immer für einen guten Monat. An diesem Dienstag bleibt der Grillrost leer. Aus dem Roten Rathaus kam die Bitte, die Märkte zu schließen, für einen Tag zumindest. Klar, sagt Bergmann, "man denkt immer dran, aber man verdrängt es", sagt er. All die Jahre.

Und nun? Bergmann zuckt die Schultern. Was soll man tun? Weitermachen. Leben. Morgen die "Grillhütte" wieder öffnen. Weil man sich doch nicht verstecken dürfe vor Angst. "Nützt doch nix", ruft eine vorbeigehende Berlinerin, "muss doch weitergehen."

So ist die Stimmung in der Hauptstadt, an Tag eins nach dem Anschlag. Betroffen, aber gefasst. Berlin hat schließlich schon so manches gesehen. Und dass es hier zu einem Anschlag kommen würde, damit haben nicht nur Politiker und Behörden gerechnet, sondern auch die Bevölkerung.

Als die Kanzlerin am Vormittag vor die Kameras tritt und von einem "sehr schweren Tag" spricht, sagt sie am Ende noch: "Wir wollen nicht damit leben, dass uns die Angst vor dem Bösen lähmt."

Die Berliner, so wirkt es nach einem Streifzug durch die Hauptstadt, sind nicht gelähmt.

Am Breitscheidplatz, dem Tatort, haben Passanten Blumen niedergelegt und Kerzen aufgestellt. Etwa drei Dutzend Menschen stehen dort. Sie weinen, beten, zeigen ihren Respekt. Von hier aus sieht man die Schneise, die der Lkw durch den Weihnachtsmarkt gezogen hat, die zersplitterten Holzhütten. Es ist still, es ist furchtbar traurig.

Gleich wird Merkel vorfahren, wird den Tatort besuchen und Blumen niederlegen, sich ins Kondolenzbuch der vom letzten Krieg geschundenen Gedächtniskirche eintragen. Ein paar wenige werden ihr gegenüber Missfallen ausdrücken, darunter der übliche Spruch von Rechtsaußen: "Die hat uns das alles eingebrockt."

Doch in der Mehrheit sind die Berliner wie die Borghorsts. Seit mehr als 50 Jahren leben sie in Charlottenburg, gleich um die Ecke von der Gedächtniskirche, beide über lange Jahre für die SPD in der Berliner Politik aktiv. Sie habe überlegt, am Montagabend auf ihrem Heimweg noch einen Abstecher auf den Weihnachtsmarkt zu machen, berichtet Helga Borghorst. Doch dann ging sie direkt nach Hause. Das war gegen acht Uhr. Der Zeitpunkt des Anschlags.

Sie sorge sich, "dass das nun politisch ausgenutzt wird, dass alle Flüchtlinge in einen Topf geworfen werden", sagt die 78-Jährige. Am Abend des Attentats, sagt ihr Ehemann Hermann, da war nur der Schock. Nun, am Tag danach, "kommt der Verstand nach vorn". Die Leute reagierten "gelassen und nüchtern", sagt er. Denn Berlin, das sei die "Stadt der Freiheit und des Zusammenhaltens, da haben wir Tradition". Als Altberliner werde er sich seine Heimat nicht zerstören lassen. Niemals.

Wo sich die Amerikaner bei Katastrophen und Terror gemeinschaftlich aufbäumen und die Franzosen sich ihres republikanischen Stolzes versichern, indem sie die "Marseillaise" besonders laut singen, da reagieren die Berliner scheinbar so, wie sie immer reagieren, wenn irgendwas los ist: Sie zeigen sich maximal unbeeindruckt.

Die größte Aufregung herrscht zwischenzeitlich am ehemaligen Flughafen Tempelhof, der größten Flüchtlingsunterkunft Berlins, in der der zwischenzeitlich Festgenommene Naved B. gelebt haben soll und wo es nachts um drei einen SEK-Einsatz gab, mit 250 Mann.

Es gibt zwei Eingänge, am einen sitzt ein Wachmann vor einem Weihnachtsbaum und schwindelt: "Alles ruhig wie immer." Am anderen belagern Reporter jeden, der reingeht oder rauskommt. Ein italienischer TV-Journalist fragt: "Ist das wirklich eine Flüchtlingsunterkunft?"

Ein junger Afghane, Bomberjacke und Sidecut, sagt, er habe den Polizeieinsatz im Schlaf gar nicht mitbekommen. Einem kleinen, dünnen Pakistani in gelben Jeans zeigt man ein Foto von Naved B.. Er spricht nur Urdu, zeigt aber gleich auf Hangar 6 - der zwischenzeitlich Tatverdächtige wohnt da. Ein Dolmetscher erklärt: Noch gestern habe er B. dort gesehen. Mehrere Flüchtlinge geben an, B. zu erkennen, aber niemand kann mehr über ihn sagen, als dass er Pakistani ist.

Einen Berliner, der seit wenigen Wochen im Hangar dolmetscht, plagt heute ein "krasses Gefühl", mit was für Leuten er dort drin zu tun haben könnte. Er habe Angst, sagt er, dass auch in der Unterkunft mal etwas passiert, die Stimmung sei ohnehin schlecht. Gegen 13.30 Uhr kommen die Eilmeldungen, dass der Verdächtige wohl doch nicht der Täter ist. Viele Reporter greifen zum Telefon, ziehen dann ab. "Wo soll ich jetzt hin?", fragt etwas verloren ein britischer Kollege.

Ein paar Ecken weiter sitzt Stephan Linsner in seinem Stammlokal und sagt: "Man wohnt ja hier." Manfred-von-Richthofen-Straße, bürgerliches Tempelhof, der Hangar in Sichtweite. "Wenn durchsucht wird, wird man unruhig, und jetzt soll er`s ja noch nicht mal gewesen sein". Linsner zuckt mit den Schultern. Dass der wahre Täter womöglich noch durch Berlin läuft, das bringt ihn nicht aus der Fassung.

Vor ihm werden jetzt die Manti kalt, die türkischen Maultaschen, aber Linsner, Geschäftsführer einer Kommunikationsagentur, wird noch mal grundsätzlich. Bei ihm herrsche Unsicherheit, ja, aber keine Angst. Er geht dieses Jahr sowieso nicht auf Weihnachtsmärkte, ein Anschlag, sagt er, "war auf der Tagesordnung". Und doch stellt er sich seit Montagabend eine Frage: "Warum haben die USA ihre Bürger ausdrücklich davor gewarnt, auf deutsche Weihnachtsmärkte zu gehen, aber wir unsere nicht?"

Checkpoint Charlie, halb vier, es wird schon dunkel. Am Hotspot der Berlin-Touristen geht alles seinen geregelten Gang: Chinesen und Italiener stehen Schlange für ein Foto mit einem Schausteller in US-Uniform. Touristen laufen über die Straße. Der Berliner hupt. Eine Mutter posiert mit Tochter und Sohn vor dem Schild mit dem amerikanischen Sektor. Wie fühlt sich heute Berlin-Urlaub an, nach so einem Anschlag?

"Recht seltsam", sagt Anna Puggioni, "denn wir kommen aus Nizza." Ihre Tochter Giulia schickt gleich hinterher: "Wir haben das jetzt zweimal erlebt." Nizza - die Lkw-Attacke aus dem Sommer. Während man noch staunt, sagt die Mutter: "Und Sonntagabend waren wir auf genau dem Weihnachtsmarkt, der jetzt angegriffen wurde."

Puggioni, die Italienerin aus Frankreich, berichtet, nach dem Terror in ihrer Stadt habe sie zwei, drei Monate lang alles versucht, um nicht auf die Promenade zu müssen, den Tatort. Diese Phase sei nun vorbei. "Das Leben geht weiter", sagt sie.

Dann hat sie noch eine Frage: "Eure Stadt fühlt sich sehr ruhig an. Ist Berlin eigentlich immer so?"

Quelle : spiegel.de

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