Horst Seehofer hatte viel Zeit, um sich Gedanken zu machen. Der Innenminister schwieg, als die Republik eineinhalb Wochen lang über den Mord eines Menschen in Chemnitz und dessen Folgen sprach. Leider nutzte Seehofer die Zeit nicht. Seine erste öffentlich bekanntgewordene Reaktion könnte gedankenloser kaum sein.
Bei einer Klausurtagung der CSU-Landesgruppe behauptete Seehofer Medienberichten zufolge: "Mutter aller Probleme ist die Migration." Und er sagte, dass Debatten geführt würden, in denen das ursprüngliche Verbrechen gar keine Rolle mehr spiele. Er habe Verständnis, wenn sich Leute darüber empörten. Zu Nazis mache sie das aber noch lange nicht.
Völlig gedankenlos, wie gesagt. Seehofer verwechselt Ursachen und Folgen. Und er scheitert daran, bei einem hochsensiblen Thema ausreichend zu differenzieren. Wenn im Kontext von Migration, besorgten Bürgern und Nazis irgendetwas die Mutter aller Probleme ist, dann ist es die Art, wie Horst Seehofer die Welt sieht.
Intellektuelle Abschottung führt zu physischer Abschottung
Ja, die Flucht Hunderttausender Menschen nach Deutschland stellt die Republik vor gewaltige Probleme: strukturell, finanziell und kulturell. Wer die Migration aber als Mutter aller Probleme beschreibt, übergeht deren Ursachen. Diese Ursachen bestehen nicht nur in Krieg, Folter und politischer Verfolgung - sei es in Syrien oder dem Irak, in Eritrea oder Afghanistan. Für einen großen Teil der Menschen, die nach Deutschland kommen, heißt die Ursache: Elend. Man darf die Bürger und Regierungen von Staaten wie Nigeria oder Ghana nicht aus der Verantwortung entlassen. Doch ihre Not gründet sich auch auf dem Machtgefälle, das in unserer globalisierten Welt herrscht. Deutschland gehört zu den Profiteuren. Unser Wohlstand ist auch deshalb so groß, weil die Bundesrepublik und die Europäische Union andere Staaten übervorteilen können.
Das ist kein Geheimnis, das ist Schulwissen. Viele Menschen ignorieren diesen Umstand die meiste Zeit ihres Lebens - weil es unbequem ist, sich die Ungerechtigkeit bei jedem Einkauf im Supermarkt vor Augen zu führen, bei jedem Drink im Café oder gar im Urlaub. Das verdrängte Wissen um diese Ungerechtigkeit schlummert aber im Unterbewusstsein. Wenn die Speisen auf dem eigenen Teller besonders fett werden, bricht es immer mal wieder hervor - und führt zu seiner saisonal gesteigerten Spendenbereitschaft. Weihnachten zumeist. So weit, so bekannt.
Mit seinem Gerede von der Migration als Mutter aller Probleme ermutigt Seehofer die Menschen zu einer intellektuellen und emotionalen Abschottung. Seehofer braucht diese Haltung, um seine physische Abschottung zu rechtfertigen: Grenzen zu, dann ist alles gut, so lässt sich seine Politik verkürzt zusammenfassen. Es ist absurd, dass man dieser Tage überhaupt erwähnen muss, dass er damit nur die sichtbaren Folgen (die Migranten) unsichtbar macht, das eigentliche Problem aber nicht löst.
Projektionsfläche für Menschenhass
Weil Seehofer die Migration – und damit die Migranten – zum Problem erklärt, macht er die Menschen, die vor Krieg und Mangel fliehen, zu einer Projektionsfläche. Wer stumpf und skrupellos genug ist, zieht diese Menschen dann als Kollektiv zur Verantwortung für die verschiedensten Probleme, die damit einhergehen, wenn eine Gesellschaft viele Neulinge aufnimmt. Neulinge, von denen sich die allermeisten, aber leider nicht alle anständig benehmen.
Vor diesem Hintergrund ist es verheerend, dass Seehofer pauschal Verständnis für die Empörung in Chemnitz aufbringt. Ja, in der vermeintlich beschaulichen Stadt in Sachsen wurde ein Mann ermordet, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte. Ja, Trauer, auch öffentlich zur Schau gestellte Trauer, sind angebracht. Viele Menschen, die in Chemnitz auf die Straße gingen, taten dies auch ausschließlich aus diesem Grund und völlig zu Recht.
Doch zugleich instrumentalisierten Neonazis und Fremdenfeinde den Tod von Daniel H.. Sie marschierten krakeelend und hasserfüllt durch die Straßen, die sie für sich reklamierten. Dabei taten sie so, als hole sich "das Volk" den öffentlichen Raum zurück. Leider gesellten sich zu diesen Märschen auch Menschen, die keine Neonazis sind, aber ein Problem mit der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin haben. Um zu zeigen, dass die Menschenhasser, die Polizisten angriffen und Migranten jagten, nicht das Volk sind, mussten aus ganz Deutschland politisch aktive Menschen anreisen und im Rahmen des Konzerts "Wir sind mehr" einen Akzent setzen.
Empörung ist nicht angebracht
Für einen Innen- und Heimatminister ist es das Mindeste, die Vielschichtigkeit der Proteste in Chemnitz zu erfassen und zu artikulieren. Seehofer hat zwar Recht, dass in vielen Berichten über die Situation in Chemnitz der Mord an einem Menschen keine Rolle gespielt hat. Doch dafür gibt es gute Gründe. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes gab es 2017 mehr als 700 Mord- und Totschlagsdelikte in Deutschland – knapp zwei Opfer pro Tag. Über die meisten dieser Fälle wird nicht bundesweit berichtet.
Der Mord in Chemnitz ist ein Politikum, weil ein Syrer und ein Iraker daran beteiligt waren und weil die Flüchtlingskrise die Republik spaltet. Deshalb ist auch eine Berichterstattung legitim, die sich auf die Strukturen und Folgen des Mordes konzentriert und weniger auf das individuelle Schicksal eines Menschen. Empörung darüber ist nicht angebracht. Denn, um noch einmal auf die Absurdität von den Migranten als "Mutter aller Probleme" zurückzukommen: Nazis gab es schon vor der Flüchtlingskrise. Es gab sie sogar schon, bevor sich Deutschland zu einem Einwanderungsland entwickelt hat.
Quelle: n-tv.de
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