Die Katastrophe im Kopf

  10 Juli 2016    Gelesen: 804
Die Katastrophe im Kopf
Vor 40 Jahren explodierte im norditalienischen Seveso ein Reaktor der Chemiefabrik Icmesa. Eine Dioxinwolke verseuchte ein dicht besiedeltes Gebiet, Hunderte Menschen bekamen Chlorakne. Der Fall ging halbwegs glimpflich aus, doch die Unsicherheit war jahrzehntelang da.

Es war eine der Umweltkatastrophen, die die Welt aufhorchen ließen. Dabei wusste kaum jemand um die Folgen, als am 10. Juli 1976 um 12.37 Uhr in Seveso, nördlich von Mailand, ein Chemiereaktor explodierte. Marzio Marzorati war damals 17. Er lebt schon immer in Seveso und hat dieses Unglück hautnah erlebt: "Vor allem die jungen Leute aus meiner Gegend reagierten mit Ungläubigkeit, Unwissen und Unverständnis über das, was da passiert war. Aber als dann in den nächsten Tagen nach und nach die Tiere gestorben sind und es die ersten Fälle von Brandwunden gab, begann die Sorge."

Marzorati hat damals Chlorakne bekommen, so wie etwa 300 andere auch. Heute ist er Vizepräsident des großen italienischen Umweltverbandes "Legambiente" in der Lombardei. Was damals auf dem Gelände der Chemiefabrik der Icmesa, die zum Roche-Konzern gehörte, passierte, beschreibt er heute so: "Der Reaktor, der chemische Substanzen, vor allem Unkrautvernichtungsmittel, zubereitete, war überladen und dann über das Wochenende unbeaufsichtigt gelassen worden. Und diese Nicht-Aufsicht einer chemischen Reaktion in einem sehr veralteten Reaktor hat zu einer Explosion geführt. Und die hat dann den Austritt einer giftigen Wolke bewirkt."

Ins Gedächtnis Italiens eingebrannt

Die Dioxinwolke verseuchte ein sechs Quadratkilometer großes Gebiet, das dicht besiedelt war. Und die größte Katastrophe war vielleicht das Versagen der Behörden. Die nicht nur die Bürger im Unklaren ließen, sondern auch selbst planlos waren. "Die ersten Tage waren unglaublich", sagt Marzorati. "Dieses Nichtwissen. Der Bürgermeister musste bei der Firma anklopfen, um zu erfahren, was passiert war. Es gab eine vollständige Sorglosigkeit um die Risiken, die die Produktion für die Gegend bedeutet hat."

Erst nach den Fällen von Chlorakne und nach dem Fund von mehr als 3000 Tierkadavern wurde Seveso, nur 20 Kilometer nördlich von Mailand, militärisch abgeriegelt. Rund 700 Familien mussten die Gegend verlassen. Das passierte aber erst zwei Wochen nach der Katastrophe. Und diese Menschen waren sich sicher, nie mehr zurückzukehren.

Halbwegs glimpflich davongekommen

Das Seveso-Unglück brannte sich in das Gedächtnis Italiens ein. Antonello Venditti widmete dem sogar ein Lied. Dabei waren die Folgen letztendlich weniger gravierend als befürchtet. Die Sterblichkeit bei den Anwohnern erhöhte sich nicht, dennoch mussten viele jahrzehntelang mit der Unsicherheit leben. Das Gelände konnte inzwischen weitgehend saniert werden. Heute wächst auf der einst verseuchten Fläche ein Eichenwald.


Aber damals war das nicht so klar. Schwangere Frauen sorgten sich wegen möglicher Missbildungen, einige von ihnen ließen sich zur so genannten therapeutischen Abtreibung bewegen. "Man wusste nicht um die Folgen dieses Unglücks. Denn Dioxin hatte man im Labor erforscht, aber nie die großen Folgen für ein Gebiet: Seveso wurde ein Labor, um zu verstehen, welche Folgen diese Verseuchung haben konnte", sagt Marzorati.

Heute kann man sagen: Seveso ist damals halbwegs glimpflich davongekommen. Der Roche-Konzern entschädigte Gemeinde und Menschen. Damit steht der Ort besser da als andere, an denen es industriebedingte Umweltkatastrophen gegeben hat. Die Spuren der hochgiftigen Abfälle, die bei der Entsorgung entstanden sind, haben sich verloren. Es gibt den Verdacht, dass die 41 Stahlfässer in der damaligen DDR auf einer Deponie in Mecklenburg-Vorpommern entsorgt wurden. Aufgeklärt wurde das bis jetzt nicht.

Quelle: tagesschau.de

Tags:  


Newsticker