Damit hatte wohl niemand gerechnet: Ausgerechnet der US-Einzelhandelskonzern Walmart will sich an Microsofts Gebot für den amerikanischen Ableger der Kurzvideoplattform TikTok beteiligen.
Das einst auf ausgeprägt christlichem Fundament in Arkansas gegründete Unternehmen will in den derzeit rasant wachsenden Onlinedienst investieren und glaubt offenbar, die Integration von E-Commerce und Werbung auf TikTok sei für Nutzer und Videomacher von Vorteil.
Wie genau das aussehen soll und welche Pläne der Konzern darüber hinaus hat, lässt er offen. Doch ein Beispiel aus Walmarts jüngerer Vergangenheit lässt Rückschlüsse zu, wie der Einzelhändler moderne Angebote in seine Geschäfte integriert.
Das Vudu-Experiment
Als Walmart das Streaming-Portal Vudu 2010 für angeblich 100 Millionen Dollar kaufte, dauerte es nicht lange, bis es Veränderungen gab. Die Tinte unter dem Kaufvertrag war kaum trocken, da verschickte das Unternehmen Schreiben an einige Content-Lieferanten, dass man ihre Dienste künftig nicht mehr brauche, die Verträge wurden gekündigt. Betroffen war zum Beispiel Vudus Porno-Angebot "After Dark".
Eine Überraschung war das kaum. Schon in den Neunzigerjahren duldete der Konzern in seiner CD-Abteilung keine Alben, die seinen Grundwerten widersprachen. Weil die Handelskette damals der größte Plattenladen Amerikas war, produzierten die Plattenfirmen also eigens für Walmart zensierte Versionen. So wurde vom Cover der CD ''Mr. Happy-Go-Lucky" von John Mellencamp Darstellungen von Jesus und dem Teufel getilgt, der Nirvana-Song "Rape Me" ("Vergewaltige mich") wurde in "Waif Me" ("Mach mich obdachlos") umbenannt.
Im Laufe der Jahre hat es der Konzern geschafft, die Vudu-App auf so vielen Smart-TVs, Set-Top-Boxen und anderen Geräten zu installieren, dass gut 100 Millionen amerikanische Haushalte Zugriff auf das Angebot haben. Trotzdem hat der Konzern den Streaming-Service im Juni an die NBC-Tochter Fandango verkauft.
Shoppen innerhalb der Sendung
Unklar ist, was nach dem Deal aus dem Content und der Technologie, die Walmart für Vudu entwickelt hat, werden soll. So hatte das Unternehmen 2019 mehrere interaktive TV-Serien und ein System angekündigt, mit dem man in einer Sendung, einem Film oder einer Serienfolge gezeigte Produkte online bei Walmart bestellen kann, ohne die Sendung zu unterbrechen.
Genau diese Technologie könnte es sein, die TikTok für den Einzelhandelskonzern interessant macht: Produkte, die in TikToks Kurzvideos gezeigt werden, schnell und einfach einkaufbar zu machen. Die App könnte so zu einer Ansammlung kurzer Werbeclips werden, erfolgreiche TikToker wären deren Protagonisten.
Auf diese Weise könnte der Konzern seine Strategie stärken, einen Gegenpol zu Amazons dominantem Online-Vertrieb aufzubauen. Das probiert Walmart ohnehin bereits mit großem Aufwand und versucht dabei einen Vorteil auszuspielen, den Amazon nicht so schnell wettmachen kann: Walmart verzeichnete 2016 weltweit 11.600 Filialen, viele dienen als Abholzentren für Online-Bestellungen. Das scheint schon recht gut zu funktionieren, doch obwohl der Online-Umsatz sich im vergangenen Jahr laut "Forbes" verdoppelt hat, ist es immer noch defizitär.
Leichte Unterhaltung und viel nackte Haut
Mit TikTok als Vehikel könnte sich das ändern, glaubt Analyst Oliver Chen. Der Dienst ermögliche Zugang zu einer neuen, jungen Zielgruppe sowie zu Drittanbietern, die die Plattform unter Walmarts Führung für eigene Shopping-Angebote und Werbung nutzen könnten. Das Kurzvideo-Angebot mit seinen rund 100 Millionen aktiven Nutzern pro Monat könne die "Attraktivität des Unternehmens für eine neue und jüngere Generation von Käufern erhöhen".
Der Gedanke dabei ist offenbar, die fürs Streaming-TV entwickelte Shopping-Technologie in TikTok zu verwenden. So könnte man etwa, wenn Fashion-Influencer ihre neuen Klamotten präsentieren, diese noch im Video zum Kauf anbieten oder wenn ein Heimwerker zeigt, wie man einen Gartenzaun baut, seine Werkzeuge offerieren.
Die Frage bleibt, wie TikToks Nutzer darauf reagieren würden, wenn das in erster Linie auf leichte Unterhaltung ausgelegte Angebot plötzlich zur Dauerwerbesendung mutiert. Umso mehr, als eine Einflussnahme Walmarts auf TikTok auch das Profil des Angebots insgesamt verändern könnte, ähnlich wie seinerzeit bei Vudu oder vor einem Vierteljahrhundert auf dem CD-Markt.
Zwar moderiert TikTok auch jetzt schon und blockiert beispielsweise explizite Inhalte, doch in vielen Videos ist dennoch viel nackte Haut zu sehen. Zu Walmart passt das nicht.
spiegel
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