Port Arthur, Columbine, Minnesota, Pennsylvania, Cleveland, Erfurt, Emsdetten, Winnenden, Jokela, Utøya und nun auch München, wo der 18-jährige Ali S. vergangenen Freitag sein Töten in einem McDonald’s-Café am Olympia-Einkaufszentrum begann: Das Phänomen Amok ist endemisch. So viel, so oft, so laut wurde in den vergangenen zwanzig Jahren über dieses öffentliche Morden nachgedacht. Wissen wir mittlerweile mehr? Ja. Sind wir in der Lage, den Vorlauf zu einem Amoklauf aufzudecken, um ihn zu verhindern? Auch das. Die Mehrheit der Amokpläne werden vereitelt. Hat uns all das Wissen gewappneter gemacht? Nein. Unsere Gesellschaft scheint das Gefühl zu bestimmen, dass Gewalt, Amok, Anschläge, Terror längst zum Alltag geworden sind. Die Katastrophen schieben sich ineinander. Der gesellschaftliche Halbwertszeit der Trauer sinkt mit jedem Fall.
Orlando, war das nicht letzte Woche? Oregon, Paris, Istanbul, Nizza, Würzburg? Unbehagen, Unsicherheit, Nervosität, auch Hysterie machen sich breit. Wir überlegen, ob wir nicht doch lieber das Auto nehmen statt den Zug. Das Café da hat große Glasfenster. Sollte man nicht besser in das an der Ecke im zweiten Stock umziehen? Wir fangen an auszuweichen, versuchen uns abzusichern, werden vorsichtiger, spüren, dass sich unser Lebenstakt verändert. Im Epizentrum einer jeden Tat ist der Schrecken derselbe geblieben, gibt es das unendliche Leid der Opfer und Angehörigen. Außerhalb sind wir froh, wenn das Grauen uns nicht erfasst hat. Ein Amoklauf? Schon wieder? Bloß gut, dass ich da weit genug weg gewesen bin. Stumpfen wir ab? Kapitulieren wir?
Seitdem es die neuen Medien gibt, ist das Phänomen Amok zu einem selbst lernenden System geworden. Sein Handlungsmodell ist global. Sein Anfang scheint immer gleich: zunächst die Verletzung, Beschämung, das Mobbing, die Verbitterungsstörung des späteren Täters, dann die Verkapslung, das Abdriften, die Gedanken der Rache, das Abtauchen in das Verstärkerprogramm der Ego-Shooter, die intensive Referenzsuche, die Gewöhnung an virtuelle Gewalt, schließlich die reale Waffe. Bei Ali S. aus München hießen die Referenzen Winnenden und Utøya. Beide Folien lieferten das nötige Mordwissen und stabilisierten ihn. Darüber hinaus tauchte er ein Jahr lang im Virtuellen ab und spielte vor allem Counterstrike. Aber ein Amokläufer wäre kein Amokläufer, bliebe er bei dem, was sich an Gewalt bereits ereignet hat. Die Schule der Destruktion ist ein Topsystem. Es sucht das Extrem, um das Ranking des Mordens fortzuschreiben. Jeder Amoklauf, das geht zumindest aus den jeweiligen Ermittlungsakten hervor, war im Sinne der Allmachtsfantasien des Täters immer auf etwas noch Größeres aus. Auch Ali S. hatte weitere 300 Schuss Munition im Rucksack. Das heißt, es hätte noch schlimmer kommen können.
Die Suche nach der Magie des destruktiven Extrems scheint für die jungen Amokläufer nicht ein Fenster, sondern das Fenster schlechthin. Tödlich Verletzte eichen sich darauf, die blinden Flecken und die Verletzbarkeit einer Gesellschaft aufzuspüren. Sie riechen die Wunden und wollen sie offen, nein öffentlich sehen, um sich im Leid der anderen zu spüren. Sie gieren nach dem Prinzip der maximalen Resonanz. Handlungsmodelle, Tatorte, Schusslinien können je nach Witterung verändert und neu fokussiert werden. Die Amokläufer ändern schnell, umstandslos und effizient. Sie sind Medienzocker und wissen das Erhitzte, Suggestible der Zeit für sich zu nutzen. Es geht um den größtmöglichen Schock, es geht darum, die Gesellschaft bis ins Mark zu erschüttern.
Das gesuchte Extrem ist das Fenster für ihre Schule der negativen Transzendenz. Ihr Leben erscheint ihnen als beschissen, verstopft und unveränderbar. In ihm herrscht akute Raumnot. Morden heißt in der Schule der Amoktäter insofern vor allem eins: sich einen neuen Raum zu eröffnen. Der Himmel, unter dem sie leben, ist leer. Den destruktiven Himmel aber hinter den freigeschossenen Fenstern, ihren kaltblütigen Entrees, sind sie dabei, zu beschreiben. An ihm bauen sie, mit aller Entschlossenheit. Ihre Todespolitik dabei ist das eine, der negative Himmel, der auf diese makaber-widersinnige Weise entsteht, das andere. Nur dort glauben die Täter einen Platz finden zu können. Nur dort haben sie die Raumnot ihres realen Lebens hinter sich gebracht. Nur er hat für sie Geltung. An diesem dunklen Himmel zu bauen ist ihre vermeintliche Mission, selbst wenn das eigene Tötungsprogramm sie bereits ausgelöscht hat.
"Die Menschheit ist ein Universum aus lauter Kindern, durch das die Kategorie des mythischen Vaters wandert", schreibt der französische Rechtshistoriker Pierre Legendre. Heranwachsende sind süchtig nach Idealen. Sie wollen glauben, sie wollen lieben, sie wollen Werte, sie wollen leidenschaftlich sein, sie wollen durch ihre eigenen Aktionen die Welt verbessern, sie wollen frei sein und dabei Orientierung und Grenzen erfahren. Sie sind Fundamentalisten per se und notwendig Narzissten. Adoleszenz als Rollentrance. Insofern ist der leere Himmel der vielen gewaltbereiten jungen Männer auch zu einer Erzählung über die Idealitätskrankheit unserer Gesellschaft geworden. Heranwachsende suchen Andocksysteme, Angebote und Vorbilder. Was hat unsere Gesellschaft ihnen zu bieten?
Amoktäter haben früh schon mit Konflikten zu tun, in denen ihre Aggressionen nicht sozialisiert werden konnten. Sie leben über Jahre in dem Gefühl der Leere. Sie hassen, neiden und sind oft isoliert. In ihrem aktivierten Größenselbst, das sich in den Todesauftritten ausagiert, suchen sie vor allem eins: einen Zugang zu sich selbst. Ist das Psychotische erzählbar? Erzählbar ist zumindest die entbundene Enttäuschungswut, die auch im Fall von Ali S. aus München mit jedem Ermittlungstag deutlicher zutage tritt. Gedisst von den Freunden, abgehängt in der Schule, irgendwann nur noch befasst mit den Destruktionsexzessen anderer. Am 22. Juli 2016 wütete sich der 18-Jährige durch seine "anderen Schauplätze des Selbst", wie Freud es nannte. Es war ein verloren gegangener Wettlauf um einen Bezug, um eine Grenze, genau genommen um das Verbot.
Worin liegt die Lösung? Gibt es eine? Der Amok-Komplex im Zeitalter der neuen Medien hat die Gesellschaft zum Komplizen gemacht. Jeder neue Fall offeriert die Aufforderung zur Destruktion. Die jungen Täter werden in einem neurotischen Zustand von Gesellschaft weiter neurotisiert. Die Medien werden zum Blockbuster. Auch in München war das so. Noch ehe man wusste, was sich in der Stadt ereignet hatte, wurde in einem Stadion in den USA kondoliert. Und als die Polizei noch um die Sicherheit in der Stadt kämpfte, liefen Falschmeldungen in den sozialen Medien. Die Mediengesellschaft macht alles zum Spiel, selbst den Amok. Es ist ein Wahnprojekt, inhuman, ohne Sinn. Wir haben nur einen Himmel. Es braucht Kultur, Erinnerung, Sprache, Identität, Glaube als Schutzwälle, um die zivilisatorische Decke zusammenzuhalten. Und es braucht eindeutig mehr Wissen um die Psyche dieser jungen Mörder. Unser Part ist es, das Destruktive all dieser Gewalt zurückzuweisen und diesen Männern den Zugang in unsere Welt zu ermöglichen.
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