Ismail sitzt auf Platz 12 F, neben ihm sein Bruder George, am Gang sein Bruder Joseph. Drei Schnurrbartträger um die 50, Hemden in gedeckten Farben, Allerweltshosen aus Polyester, als hätten sie vereinbart, sich so unauffällig wie möglich zu kleiden. In der Reihe vor ihnen spielen drei strandbraune T-Shirt-Touristen aus Stuttgart Karten. Hinter ihnen sagt eine Geschäftsfrau im Kostüm zu ihrem Begleiter: "Ich fliege diese Strecke x-mal im Jahr."
Ismail und seine Brüder sagen nichts. Sie lesen nicht, sie schlafen nicht. Sie schauen still vor sich hin.
Inmitten der Linienflugroutine ist ihnen nicht anzusehen, dass sie auf der Flucht sind, so wie all die Syrer und Afghanen, 36.000 Fuß unter ihnen, auf Booten im Meer. Soll man sagen, die drei haben Glück gehabt? Ein Frühstück in der Economyclass, eine Tasse Kaffee, schon liegt das Mittelmeer hinter einem. Doch wie viel Glück braucht es, um das Pech aufzuwiegen, zum falschen Volk zu gehören, der falschen Religion anzuhängen, zur falschen Zeit im falschen Land zu leben? Ismail Ismails Heimat: überrannt. Sein Haus: geplündert. Er selbst: der Geiselhaft des "Islamischen Staats" entronnen. Jetzt aufgehoben unter denen, die Grenzen nicht überwinden, sondern überfliegen. Für die Reisen kein Schicksal ist, sondern Alltag. Die vielleicht auch mal fliehen, aber nur vor dem schlechten Wetter. Zwischen Menschen wie uns also, den Lesern und Reportern der ZEIT.
Das Verhängnis Ismails und seiner Brüder, seiner Frau, seiner Kinder, seiner Freunde, seiner Nachbarn – fast wäre es unerzählt geblieben. Nur ganz kurz, am 23. Februar 2015, glitt im schnellen Strom der Kriegsberichte, Flüchtlingsfotos, Grenzdebatten diese Eilmeldung durch das Weltbewusstsein: In Syrien hatten Kämpfer des IS urchristliche Gemeinden überfallen. 35 Dörfer, aufgereiht am Ufer eines Flusses namens Chabur, der in den Euphrat mündet. Die Islamisten nahmen 253 Geiseln, unter ihnen Ismail und seine Brüder.
Es war noch Nacht, als die drei Männer Monate später, nach ihrer Befreiung, in Beirut ins Flugzeug stiegen. Beim Zwischenstopp in Tunis zeigten wir ihnen ein Foto, ausgedruckt aus dem Internet, ein Satellitenbild von Google Maps. Ein Puzzle aus erdigen Farben. Felder, Wege, Windungen eines Flusses. Am Ende einer schmalen Straße die Konturen eines Dorfes. Mit etwas Fantasie könnte man in diesem Umriss ein Blatt erkennen, wie von einem Baum gefallen.
Joseph und George drehten das Foto ratlos in ihren Händen; mit den Augen eines Satelliten hatten sie den Schauplatz ihres bisherigen Lebens nie gesehen. Ismail aber begriff sofort: Das war Tel Goran, sein Dorf. Er tippte mit dem Zeigefinger auf ein Haus, links oben auf dem Ausdruck. Er führte das Bild an seine Lippen und küsste es, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
In tausend kleinen, unscheinbaren Szenen, eine davon an Bord des Fluges TU 744, vollzieht sich ein Exodus der Christen; nicht der erste, aber vielleicht der endgültige. Es fliehen Glaubensgruppen, von denen einige fast so alt sind wie der Glaube selbst. Kopten verlassen den Nahen Osten, Chaldäer, Maroniten. Ismail, Joseph und George sind Assyrer. Drei Angehörige eines weiteren christlichen Volkes, das sich – wie aufgewirbelt vom Weltgeschehen – über die ganze Erde verstreut. Drei Brüder, fortgeweht aus der alten Heimat, dem Zweistromland, wo sich mehr Geschichte schichtet als überall sonst, wo es mehr Völker als Staaten gibt, wo um alles gestritten wird, um Macht, Land, Öl, die Nähe zu Gott.
Flug TU 744 landet auf dem Flughafen Frankfurt. Summend, pingend, klingelnd erwachen Mobiltelefone aus ihrem Koma. Auf den Plätzen 12 D bis 12 F bleibt es still. Wenig später laufen Ismail und seine Brüder im Sog der Reisenden durch einen langen Gang. Einmal stockt der Menschenstrom. George und Joseph zögern, dann betreten sie zum ersten Mal im Leben eine Rolltreppe. Die umstehenden Urlauber mögen denken: Was sind das für Bauern?
Niemand ahnt, dass diese Männer aus der Mitte des Weltgeschehens kommen. Ihre Heimat liegt an den Fronten des syrischen Krieges, wo Kurden mit deutschen Waffen den IS bekämpfen, wo amerikanische, französische und bald auch deutsche Kampfflugzeuge ihre Bahnen ziehen, wo Sunniten auf Schiiten schießen und syrische Rebellen auf Soldaten des syrischen Regimes. Ganze Landstriche sind entvölkert. Chinesische Wissenschaftler haben errechnet, dass der Nachthimmel über Syrien heute 83 Prozent dunkler ist. Im Christendorf Tel Goran brennt kein einziges Licht mehr.
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